Entfremdung unseres Selbst. Wohin mit der Wut?

Wie wir uns von unseren Gefühlen verabschieden und dafür Wut auf Kissen verlagern

Lesezeit: 8 Minuten

Frag mal einen Affen ob er weiß, wer er ist und weshalb er auf dieser Erde ist. Ich denke ihm wäre es egal und er würde sich wieder auf die Suche nach der nächsten Banane oder potentiellem Fortpflanzungsobjekt begeben. Wir Menschen sind gaaanz anders und viel bedeutender als jedes andere Lebewesen auf dieser Welt oder haben wir schlichtweg einen Gotteskomplex entwickelt? Was hat uns die Vernunft eigentlich gebracht, die wir uns mühsam erarbeitet haben? Kennst du diesen düsteren Zukunftsfilm, der eigentlich als Satire gemeint war, aber in erschreckendem Maße prophetisch scheint? Schau dir Idiocracy von 2006 an – Spoiler, besonders gut ist er nicht. Die Menschen in dieser grotesken Welt haben ihre intellektuellen Fähigkeiten so weit reduziert, dass sie die absurdesten Lösungen für ihre Probleme finden. Doch während wir uns alle über die zugrunde liegende Dystopie lustig machen, nähern wir uns dieser Realität in einem entscheidenden Punkt schneller, als wir glauben wollen: unserem völligen Verlust des Bezugs zu unseren eigenen Gefühlen. Willkommen in der Ära der Entfremdung und Verblödung – oder: „Wut abbauen leicht gemacht mit dem revolutionären Wutkissen!“

Zunächst müssen wir erkennen, dass Emotionen Signale sind – ja, wie diese blinkenden Lichter auf dem Armaturenbrett, die wir gern ignorieren, bis der Motor auf der Autobahn aussetzt. Emotionale Intelligenz bedeutet, dass wir diese Signale nicht nur erkennen, sondern verstehen und nutzen. Daniel Goleman, der Guru auf diesem Gebiet, schlägt vor, unsere Emotionen wie Karten in einem Strategiespiel zu behandeln: Erst mal schauen, was wir auf der Hand haben, bevor wir den Gegner niederwalzen. Wut ist dabei eine besonders kraftvolle Karte – sie sagt uns, dass wir uns von etwas bedroht fühlen, sei es ein Angriff auf unsere Werte, unsere Sicherheit oder schlicht unser Ego. Doch während wir in der Urzeit noch den Säbelzahntiger mit dieser Wut bekämpfen konnten, müssen wir heute diplomatischere Methoden finden. Wie also umgehen mit dieser Energie?

Das Wutkissen als Symptom unserer emotionalen Verarmung

Stell dir vor, du sitzt nach einem langen Arbeitstag auf deinem Sofa. Ein völlig nutzloses Meeting, die unerledigten Aufgaben stapeln sich, und auf dem Heimweg hat dir jemand den letzten Parkplatz vor der Haustür weggeschnappt. Du bist genervt. Aber statt dir bewusst zu machen, was genau in dir brodelt, greifst du zu einem Kissen und schlägst es voller Enthusiasmus – ohne überhaupt zu verstehen, was du gerade tust. Willkommen beim sogenannten Wutritual – wieder eine neue Erfindung der New-Age-Bewegung. Die Idee ist simpel: Schlage auf das Kissen ein und lasse den Stress los.

Doch was hier auf den ersten Blick wie ein moderner Ansatz zur Stressbewältigung aussieht, ist in Wahrheit ein trauriger Ausdruck unserer emotionalen Entfremdung. Denn die Frage, die sich niemand mehr zu stellen scheint, ist: Warum sind wir überhaupt wütend? Wut, Trauer, Angst – diese mächtigen Emotionen sind nicht einfach böse Eindringlinge, die es zu vertreiben gilt, sondern wesentliche Elemente unseres Daseins. Wut signalisiert uns, dass etwas nicht stimmt, dass eine Grenze überschritten wurde oder dass wir uns wehren müssen. Doch statt diese Signale zu verstehen und zu nutzen, flüchten wir uns in abstruse Rituale, die uns vorgaukeln, wir hätten Kontrolle über unsere Gefühle – während wir uns in Wahrheit immer weiter von ihnen entfernen.

Ein verkannter Freund, der uns die Wahrheit sagen will – Wut

Essentielle Gefühle wie Wut sollten eben nicht einfach unterdrückt oder ignoriert werden. Sie haben eine Funktion: Sie wollen uns etwas mitteilen. Ein besserer Umgang mit Wut wäre daher, innezuhalten und diese Emotion zu untersuchen. Was genau hat uns wütend gemacht? Welche Grenze wurde überschritten? Welche Bedürfnisse sind verletzt? Doch unsere moderne Gesellschaft – getrieben von der Hetze des Alltags und der Dominanz von Lohnarbeit – hat keine Zeit mehr für solche Reflexionen. Stattdessen wurden schnell konsumierbare „Lösungen“ entwickelt, die den eigentlichen Kern des Problems umgehen. Das Wutkissen ist hierbei nur ein Symptom. Wir schießen regelrecht am Ziel vorbei, wenn wir Emotionen einfach „ausleben“ und auf Gegenstände einschlagen, anstatt uns mit ihrem Ursprung auseinanderzusetzen- ja wie als würden wir einen Feueralarm hören, das Alarmgerät zerschlagen, aber das brennende Haus ignorieren.

Wut ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. In den sogenannten „emotionsregulierten Gesellschaften“ ist das Ausleben von Wut nicht nur verpönt, sondern oft als Zeichen von Schwäche abgestempelt. Also was tun? Sollten wir alle zur Gruppentherapie rennen? Klar, bei der Vorstellung im Kreis zu sitzen und über meine Gefühle zu sprechen, statt sie zu kanalisieren, bekomme ich doch eher einen Wutanfall.

Die Verblödung im Umgang mit Emotionen

Die Verblödung, von der in dem Film die Rede ist, betrifft nicht unsere kognitive Intelligenz, sondern unser emotionales Verständnis. Wir haben verlernt, unsere Gefühle zu benennen, zu verstehen und konstruktiv zu nutzen. Anstatt Wut als wertvolle Information zu sehen, die uns hilft, uns selbst besser zu verstehen, haben wir sie zu einem unkontrollierbaren „Feind“ degradiert, den es zu vernichten gilt. Und hier kommt die zentrale Frage ins Spiel: Warum verlieren wir den Bezug zu unseren Gefühlen? Was ist das eigentliche Problem?

Die Antwort liegt in den Anforderungen unserer schnelllebigen, von Lohnarbeit dominierten Gesellschaft. Wir haben schlichtweg keine Zeit mehr, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen. Emotionen sind störende Hindernisse, die uns von der „Produktivität“ abhalten. Wir sollen funktionieren – rund um die Uhr, ohne Unterbrechung. Nach dem Feierabend schauen wir Netflix, statt zu lesen, zocken ne Runde, statt uns zu bewegen und am Wochenende wird gefeiert. Gefühle wie Angst, Trauer und Wut passen nicht in das Bild des idealen Arbeitnehmers*, der immer effizient, immer leistungsbereit ist. Also entwickeln wir Mechanismen, um diese Gefühle schnell loszuwerden, ohne sie zu hinterfragen. Das Wutkissen ist nur ein weiterer Baustein in diesem System der emotionalen Verdrängung.

Entschleunigung und Resonanz als Gegenentwurf?

Der Soziologe Hartmut Rosa bietet in seiner Theorie zur Entschleunigung und Resonanz einen wertvollen Gegenentwurf zu diesem toxischen Umgang mit Emotionen. Für Rosa besteht das Problem nicht nur darin, dass wir zu viel arbeiten, sondern dass wir in einem ständig beschleunigten Zustand leben, der uns die Möglichkeit nimmt, echte Verbindungen zu uns selbst und unserer Umwelt zu schaffen.

Rosa spricht von Resonanz als einem Zustand, in dem wir wirklich mit unserer Umwelt und unseren Mitmenschen in Kontakt treten. Diese Resonanz kann nur entstehen, wenn wir uns Zeit nehmen, innezuhalten und zuzuhören – nicht nur anderen, sondern auch uns selbst. Hier liegt der Schlüssel zum gesunden Umgang mit Emotionen: Anstatt sie zu verdrängen oder zu kanalisieren, müssen wir ihnen Raum geben, sie fühlen und verstehen, was sie uns sagen wollen.

Entschleunigung bedeutet nicht, einfach weniger zu arbeiten, sondern den gesamten Lebensrhythmus zu verändern. Wir müssen lernen, wieder auf unsere inneren Stimmen zu hören, auf die leisen Regungen der Wut, der Angst, der Freude und der Trauer. Nur so können wir uns von der emotionalen Verblödung befreien und wieder einen gesunden, bewussten Umgang mit unseren Gefühlen entwickeln.

Wenn wir uns weiterhin auf absurde Rituale wie das Wutkissen verlassen, steuern wir auf eine Zukunft zu, die in Idiocracy nicht so weit hergeholt erscheint. Der Verlust des emotionalen Feingefühls führt zu einer gesellschaftlichen Verblödung, in der wir uns von unseren wahren Bedürfnissen und Gefühlen immer weiter entfremden. Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche besinnen: den bewussten Umgang mit unseren Emotionen, die Reflexion unserer Wut und den Mut, uns selbst in all unserer emotionalen Komplexität zu begegnen.

Das Wutkissen mag vielleicht kurzfristig helfen, Druck abzulassen, doch der wahre Weg zu einem gesunden Umgang mit Emotionen führt über Entschleunigung, Resonanz und Selbstreflexion. So wie Hartmut Rosa es in seinen Theorien beschreibt: Es ist an der Zeit, den hektischen Rhythmus des Alltags zu durchbrechen und wieder echte, tiefe Verbindungen zu uns selbst und unserer Umwelt zu suchen. Nur so können wir der emotionalen Verblödung entkommen – bevor wir in einer Welt aufwachen, in der das Schlagen auf Kissen unser tiefster emotionaler Ausdruck ist. Wie ein Walzertanz und die Rebellion der Yogahosen.

Die Sozialpädagogik hat hier einen besonderen Ansatz: den „körperlich-emotionalen Ausdruck“. Kinder werden oft in Spielen ermutigt, ihre Gefühle durch Bewegungen zu kanalisieren. Auch Erwachsene könnten von dieser kindlichen Herangehensweise profitieren. Vielleicht sollten wir uns öfter vorstellen, dass wir auf dem Spielplatz sind, mit ein paar imaginären Feinden tanzen und uns in einem spielerischen Kampf gegen die Sorgen des Alltags beweisen.

Wenn wir unsere Emotionen kennenlernen wollen, geht es weniger darum, sie zu unterdrücken oder sie in Rituale zu packen, sondern darum, sie wie alte Freunde zu behandeln – auch wenn sie uns manchmal auf die Nerven gehen. Wut kann ein großartiger Motivator sein, wenn wir sie nicht mit Repression, sondern mit intelligentem Ausdruck begegnen. Tanzen wir mit unseren Emotionen, boxen wir gegen den Stress an und lachen wir über den Wahnsinn der Welt.

Wut entsteht oft durch ein Gefühl von Ohnmacht, wenn wir merken, dass uns jemand manipuliert oder Tatsachen verdreht, um von sich selbst abzulenken. Ein Freund, der ständig versucht, sich besser darzustellen, indem er unsere Schwächen hervorhebt, kann tiefe Wut auslösen.

Ein aktiver Dialog ist nicht immer eine achtsame Darstellung der eigenen Wahrnehmung, denn Ehrlichkeit kann manchmal hart und verletzend sein. Aber wenn Vertrauen besteht, schafft eine gesunde Streitkultur oft das Gegenteil von Distanz – sie schweißt Freundschaften zusammen. Indem wir ehrlich über unsere Wut sprechen, schaffen wir Klarheit und stärken die Beziehung. Ehrlich gesagt, hat es mir persönlich sehr geholfen und mir gezeigt wer wirklich mein Freund ist und wer nicht.

Um sich aus größeren, systemischen Machtstrukturen zu befreien, müssen wir uns neuen Modellen zuwenden. Autonome Kollektive bieten hier eine Alternative, indem sie Hierarchien abbauen und Entscheidungsprozesse basisdemokratisch gestalten. Statt sich von den alten Strukturen vereinnahmen zu lassen, können wir neue Räume schaffen, in denen Gleichberechtigung, gegenseitige Unterstützung und geteilte Verantwortung gelebt werden. In solchen Gemeinschaften wird Wut nicht unterdrückt, sondern als Signal für Veränderung wahrgenommen, und konstruktiver Umgang damit wird gefördert. So befreien wir uns aus den Fesseln bestehender Machtstrukturen und schaffen eine Kultur, in der individuelle Freiheit und kollektive Zusammenarbeit Hand in Hand gehen.

Soziale Unterdrückung, wie sie durch normative Regeln diktiert wird, lässt sich oft am besten durch die Macht des Humors entwaffnen. Solange wir unseren Humor nicht dafür einsetzen, Tatsachen wegzulachen und konstruktiv ins Tun kommen .

xoxo, Alice

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert